Vogelzug in Israel – ein Naturspektatkel
27. November 2012 Hinterlasse einen Kommentar
Israel – Naturparadies im Schatten des Nahost-Konflikts
Von Thomas Krumenacker*, Herbst 2012 (www.krumenacker.de)
Eine Gruppe Kraniche im ersten Sonnenlicht des Tages. Das Hula-Naturschutzgebiet in Nordisrael ist der bedeutenste Rastplatz für diese Vogelart im Nahen Osten. (Bild: Thomas Krumenacker)Alljährlich im Herbst und im zeitigen Frühjahr bekommen israelische Naturfreunde Post von ungewöhnlicher Stelle. „Das Zugvogelzentrum der Luftwaffe nimmt seine Arbeit wieder auf“, mailt die Airforce an die auch in Israel wachsende Gemeinde der Ornithologen und Vogelbeobachter. „Wir würden uns freuen, wenn ihr uns über jede Konzentration von Vögeln auf dem Laufenden halten würdet (Pelikane, Störche, Kraniche)“, heißt es dann wieder in einer Rundmail. Und so tragen die meisten Mitglieder der israelischen Birding-community neben Fernglas, Teleskop und Fotoapparat in aller Regel zwei Telefonnummern mit sich: Die zum Koordinator der „rare bird alerts“, um per SMS sofort andere Beobachter über gesichtete Seltenheiten alarmieren zu können – und die des Koordinationszentrums der Luftwaffe, das am internationalen Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv Tag und Nacht besetzt ist und für den militärischen wie zivilen Flugbetrieb alle Bewegungen über dem Himmel im Heiligen Land registriert: Zivile Flugzeuge, Militärjets – und Zugvögel. Kreuzt ein Schwarm Pelikane oder Kraniche die geplante Route von Flugzeugen, erhalten diese solange Startverbot, bis die Vögel außer Reichweite sind. Eine Win-Win-Situation: Die Vögel bleiben unbehelligt und eine Gefahr für Luftfahrt und Passagiere wird gebannt.
Weissstörche ziehen in grossen Trupps von oft mehr als 10.000 Vögeln und rasten an den wenigen Wasserflächen, die sie inmitten der Wüste finden. (Bild: TK)Israel hütet einen der grössten Naturschätze der Menschheit
Diese international wohl einmalig enge Zusammenarbeit zwischen der Flugsicherheit und Naturfreunden hat einen handfesten Grund und offenbart eine Seite Israels, die im Schatten der einseitigen Wahrnehmung des Landes als vermeintlichem Zentrum des Nahost-Konflikts nur wenig bekannt ist: Israel hütet einen der größten Naturschätze der Menschheit. Das kleine Land von der Größe Hessens ist weltweit eine der wichtigsten Drehscheiben des Vogelzugs, eines alljährlichen Naturschauspiels, das die Menschheit seit biblischer Zeit fasziniert.
Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, versammeln sich im Luftraum über Israel nach Schätzungen rund 500 Millionen Vögel auf dem Weg in ihre afrikanischen Wintergebiete beziehungsweise zurück in die europäischen, russischen und zentralasiatischen Brutgebiete. Zehntausende von Weißstörchen aus Deutschland, Polen und anderen Ländern landen dann zur abendlichen Rast in den Feldern der Kibbbutze oder auch inmitten der Negev-Wüste und bieten Naturbeobachtern atemberaubende und faszinierende Einblicke in eines der letzten großen Geheimnisse der Natur. Am nächsten Morgen setzen sie den langen Weg dann nach einem spektakulären Massenstart fort. Auch am Himmel über Tel Aviv oder Jerusalem können zur richtigen Zeit große Schwärme von kreisenden Großvögeln beobachtet werden.
Der Grund für die einmalige Konzentration von Vögeln in Israel liegt in der geographischen Lage des Landes: An der Schnittstelle der Kontinente Europa, Asien und Afrikas gelegen, bildet Israel eine Art Landbrücke zwischen Europa und Afrika. Besonders schwere und große Vögel wie Störche, Adler, Pelikane oder Kraniche vermeiden es, auf ihrer viele Tausende Kilometer langen Reise über größere offene Wasserflächen zu fliegen. Dort können sie bei Erschöpfung nicht landen, vor allem aber bildet sich über dem kalten Wasser keine Thermik. Diese über Land am Morgen durch Sonneneinstrahlung entstehenden warmen Aufwärtswinde helfen den Vögeln, sich energiesparend im Gleitflug tragen zu lassen. Kräfteraubender Aktivflug kann so auf ein Minimum reduziert werden. Zusätzlich liegt Israel auf seiner gesamten Länge von den Golan-Höhen im äußersten Norden, über das Jordan-Tal und das Tote Meer bis hin zum Ausläufer des Toten Meeres bei Eilat im äußersten Süden entlang des seit Millionen von Jahren wichtigsten Zugweges für Vögel aus Europa und Zentralasien nach Afrika, dem Syro-afrikanischen Grabenbruch, besser bekannt als Rift-Valley.
Viele Kraniche verbringen mehrere Wochen im Hula-Tal, um sich vor dem anstrengenden Weiterflug in das Winterquartier im südlichen Afrika zu stärken. Im Hintergrund der schneebedeckte Mount Hermon, Israels höchster Berg. (Bild: TK)
Allein über 100.000 der seltenen Schreiadler sammeln sich in Israel
Nicht nur für Vogelbeobachter, auch für Biologen, die den Vogelzug wissenschaftlich untersuchen und für Artenschützer, die seltene Vogelarten eingehender untersuchen, ist Israel daher von herausragender Bedeutung. Von einigen der bedrohtesten Vogelarten zieht nämlich der gesamte Weltbestand über Israel, eine einmalige Gelegenheit zu erfahren, wie sich die Populationen entwickeln und zu kontrollieren, ob Schutzmaßnahmen in den oft entlegenen Brutgebieten wirksam sind.
Ein solches Beispiel ist der Schreiadler, Deutschlands seltenste Adlerart. Nur in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern brüten hierzulande heute noch Schreiadler, insgesamt nur rund 100 Paare. Auch in den anderen Vorkommensgebieten geht ihre Zahl zurück. Keiner weiß aber genau, wie sehr. Über dem Himmel der nördlichen Täler Israels versammeln sich in einem kurzen Zeitraum zwischen Mitte September und Anfang Oktober dann auf dem Weg in das südafrikanische Winterquartier so gut wie alle Schreiadler der Erde. Warten in den angrenzenden arabischen Ländern allzuhäufig Jäger auf die Adler, sind es in Israel die Vogelkundler: In einer dichten Kette von Beobachtungsposten werden über die gesamte Breite des Landes auf einer Linie von Haifa am Mittelmeer bis zum Bet-Shean-Tal an der Grenze zu Jordanien von morgens bis abends die überhin ziehenden Vögel gezählt. Diese seit nun 30 Jahren unternommene Untersuchung ist eine der weltweit am längsten erhobenen systematischen Vogelzugzählungen und genießt in der wissenschaftlichen Fachwelt entsprechendes Gewicht. In diesem Herbst wurden knapp über 100.000 Schreiadler in Israel gezählt – eine Zahl, die Artenschützer vorsichtig optimistisch sein lässt, dass die Art sich wohl in einem vergleichsweise stabilen Zustand befindet.
Weitaus höhere Zahlen werden von anderen, auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannten, Vogelarten gezählt: So wird geschätzt, dass 70 Prozent aller Weißstörche der Erde Israel zweimal im Jahr überqueren, darunter auch der Großteil der in Deutschland brütenden Vögel. Der Zug kleiner Singvögel wie Blaukehlchen, Mönchsgrasmücke oder Schafstelzen vollzieht sich überwiegend nachts und in sehr großer Höhe. Er wurde in Israel mittels Radar erforscht und siehe da: Eine ruhige Wüstennacht ist gar nicht so ruhig: Geschätzt mehrere Hundert Millionen Kleinvögel überqueren das Gebiet des Rift Valleys für den Menschen unsichtbar jedes Jahr. Auf einem nächtlichen Ausflug in die Wüste lassen manchmal die beständigen Kontaktrufe er in mehr als einem Kilometer Höhe ziehenden Vögel ahnen, was sich unsichtbar über dem Wanderer abspielt.
Der gesamte Weltbestand des vom Aussterben bedrohten Schreiadlers zieht innerhalb weniger Wochen durch Israel und bietet Forschern Gelegenheit, wertvolle Erkenntnisse zu ihrem Schutz zu sammeln. (Bild: TK)
Besondere Anforderungen an Naturschutz in Israel
Die herausragende Bedeutung Israels für den Vogelzug bürdet dem Land auch eine große Verantwortung auf und Naturschutz oder Naturzerstörung in Israel hat auch unmittelbare Folgen für in Deutschland und anderen Teilen Europas brütende Vogelarten wie den Weißstorch oder den Schreiadler. Jedes vernichtete Öko-Systen beraubt nicht nur die einheimischen Arten ihres Lebensraums, auch Zugvögel verlieren lebenswichtige Raststation, um die Reserven für den Flug über die Sahara mit tausenden Kilometern ohne Nahrung überstehen zu können. Zugleich bietet das alljährliche Spektakel auch viele Chancen. Die in der Society for the Protection of Nature (SPNI) zusammengeschlossene Israelische Ornithologenvereinigung kooperiert deshalb eng mit Partnerverbänden in anderen Ländern und veranstaltet seit einigen Jahren erfolgreich „Vogelzugfestivals“ in Eilat und im nördlichen Hula-Tal. Naturbegeisterte aus Europa, den USA und Israel treffen sich eine Woche lang zum Meinungsaustausch, werden von den besten Vogelkennern des Landes bei Tagesausflügen zu den besten Vogelrastplätzen begleitet und erhalten bei Vorträgen einen Einblick in den Stand der Vogelforschung. Längst haben sich die Vogeltouristen zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor etwa im nordisraelischen Hula-Tal entwickelt. Damit erhalten auch die Bemühungen der israelischen Ornithologen etwa um den Schutz der verbliebenen Feuchtgebiete am Fuße der Golan-Höhen oder intakter Wüstenhabitate im Arava-Tal einen anderen Stellenwert, hilft doch die Bewahrung der Natur auch beim Sichern der Einkommen der lokalen Kibbutze.
Eine Gruppe Rosapelikane hat sich zur Rast auf einem See im Hula-Tal niedergelassen. Zwischen Oktober und November können im Himmel über Israel Gruppen mit vielen Tausend dieser schwersten europäischen Zugvögel beobachtet werden. (Bild: TK)
Schleiereulen als Friedenstauben
Auch bei der regionalen Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg spielen Vögel in der Region mittlerweile eine wichtige Rolle. Im Bet-Shean-Tal, zwanzig Minuten südlich des Sees Genezareth, haben die israelischen Ornithologen Landwirte aus Jordanien, Israel und den Palästinensergebieten zusammengebracht, um ein ökologisches Problem gemeinsam anzugehen: die beständige Intensivierung der Landwirtschaft und den massenhaften Verbrauch von Chemikalien. Dutzende Tonnen von Chemikalien, allen voran zur Bekämpfung von Ratten und Mäusen, werden jährlich in dem für die Landwirtschaft auf allen Seiten gleichermaßen wichtigen Jordantal versprüht. Immerhin machen Wissenschaftler die Nager für den Ausfall von bis zu 35 Prozent der Ernte etwa beim Weizen verantwortlich. Das Gift macht aber nicht nur den lästigen Nagern den Garaus: Schädlingsbekämpfungsmittel verseuchen auch die Böden und das Grundwasser – und sie töten einheimische wie Zugvögel. Auf Initiative der israelischen Ornithologen wurde eine nachhaltige Lösung gefunden, die zudem die Farmer aus den drei benachbarten Gebieten an einen Tisch gebracht hat. Statt Chemie auszubringen, wurden massenhaft Nistkästen für Schleiereulen angebracht – manche sogar aus recycleten Munitionsboxen der Armee. Der Gedanke: Ein Paar der gut taubengroßen Schleiereulen verzehrt pro Jahr 2000 bis 3000 Mäuse. Begrenzt wurde die Zahl der Nager-Jäger eigentlich nur durch das geringe Angebot an Brutplätzen. Also wurden künstlichen Nestboxen aufgestellt. Was mit 20 Kästen vor 25 Jahren begann, ist mittlerweile eines der erfolgreichsten Programme der biologischen Schädlingsbekämpfung weltweit und überdies zu einem Vorzeigeprojekt regionaler Zusammenarbeit in einem der Brennpunkte der Weltpolitik. Tausende Paare Schleiereulen brüten auf allen Seiten der Grenze und helfen viele Tonnen Chemikalien einzusparen.
*Der Autor: Thomas Krumenacker, 47, ist Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin und Naturfotograf. Er beteiligt sich seit vielen Jahren an Naturschutzprojekten in Israel.2009 wurde er mit dem Umweltpreis der Israelischen Naturschutzverbände ausgezeichnet. Mehr von ihm auf seinem Blog: www.krumenacker.de
Dieser Beitrag erschien zuerst am 29.10.12 in „Zwischenzeilen“ von der Gesellschaft Israel-Schweiz.
Weissstörche über dem wiederhergestellten Jordan-Fluss im Hula-Tal fotografiert aus einem Ultraleichtflugzeug. Im Hintergrund der Agmon (See) des Hula-Tals, eines der erfolgreichsten Projekte zur Wiederherstellung zerstörter Natur im Nahen Osten. (Bild: TK)Erst mit dem anbrechenden Abend unterbrechen die Störche ihren Zug, um möglichst viel vom Tag für die lange Reise nutzen zu können. (Bild: TK) Kraniche brechen an einem frühen April-Morgen im Hula-Naturschutzgebiet auf, um den langen Flug nach Europa anzutreten. Im Hintergrund der Mount Hermon. (Bild: TK)